Philosophie & Tipps

Gleichberechtigung ohne Altersgrenzen

Mit Kindern “gleichberechtigt” den Alltag zu erleben ist nicht so einfach. Wir erwarten nicht, dass es jeder perfekt kann, aber zumindest Respekt und Achtung, Gleichwürdigkeit anstrebt und neugierig und offen für Austausch über das Thema Gleichberechtigung mit Kindern ist. Die Eltern haben bei Rockzipfel die Möglichkeit, sich darin zu üben, sich darüber mit anderen Eltern – und Kindern – auszutauschen, offene Fragen gemeinsam zu klären und vieles mehr.

Wir sind uns darüber im Klaren, dass Gleichberechtigung mit Kindern sehr “extrem” erscheint (und “grenzenlos”, aber das ist ein Vorurteil!), und dass es nicht einfach ist – wir Eltern haben ja selbst kaum Vorbilder, an denen wir uns orientieren können. Wir hoffen, dass Kritik mit Respekt geäußert wird und dass die Neugier und offene Gespräche überwiegen: Stimmen die Vorurteile?

Der vorliegende “Leitfaden” ist bestückt mit Ideen zur konkreten Umsetzung, damit sich Interessenten ein Bild von dem machen können, was wir anstreben. Wende dich mit Fragen und Anregungen an uns!

Gleichberechtigung ist nicht Gleichbehandlung

Oftmals werden diese Begriffe in einen Topf geworfen. Es geht nicht darum, die Kinder “so zu behandeln, als seien sie kleine Erwachsene”. Denn dass sind sie ja offensichtlich nicht! Wir sind verschieden – aber genau deswegen ja, brauchen wir gleiche Rechte! Gleiche Rechte sind dafür da, vor Ausnutzung und Willkürlichkeit zu schützen. Behinderte haben z.B. auch eingeschränkte Möglichkeiten – gerade damit man sie nicht ausnutzen, ausgrenzen oder über sie bestimmen darf, haben sie die gleichen Rechte wie Nichtbehinderte Menschen.

Warum denn überhaupt?

Einfach, weil Kinder Menschen sind. Es gelten die Menschenrechte – für alle! Die Begleitung von Kindern muss mindestens diesem “Standard” genügen. Es kann nicht sein, dass fremde Passanten respektvoller behandelt werden als unsere eigenen Kinder – oder werden Passanten mit schlechten Manieren auf einen “Stillen Stuhl” gesetzt?

Kinder, die angebrüllt werden, brüllen andere an.
Kinder, die geschlagen werden, schlagen andere.
Kinder, die Respekt erleben, respektieren andere.

Kooperation

Wir gehen von einer natürlichen Kooperationsbereitschaft aus. Kinder möchten kooperieren, und das tun sie sowohl im Guten als auch im Schlechten und oft nur auf der Gefühlsebene. Es ist daher ratsam, die Kommunikation und den Tagesablauf so zu gestalten, dass die Kinder kooperieren können.

Kinder können nicht effektiv kooperieren, wenn sich unsere Erwartungen widersprechen. Erwartungen widersprechen sich, wenn wir z.B. Erwartungen einerseits äußern, aber gleichzeitig deutlich machen, dass wir eigentlich davon ausgehen, dass sie diese geäußerten Erwartungen sowieso nicht erfüllen werden.

Deutlich wird dies, wenn man an Drohungen denkt: “Wenn du wieder Dreck machst, dann darfst du das und das nicht mehr benutzen”.

  • Das zeigt dem Kind einerseits, dass von ihm erwartet wird, keinen Dreck zu machen
  • andererseits aber auch, dass von ihm sowieso schon erwartet wird, dass es trotzdem Dreck machen wird – sonst hätte man sich ja nicht schon eine Konsequenz bzw. Lösung für diesen Fall ausgedacht.

Die Kinder erleben/verstehen diese beiden Erwartungen und wollen naturgemäß kooperieren – daher machen sie beides, und können doch niemanden damit “zufrieden stellen”. Oder sie machen nichts von beiden.

Diesen Zwiespalt können wir Kindern ersparen. Daher ist Vertrauen so wichtig: Wenn wir unseren Kindern richtig vertrauen können (dass sie lernen, dass sie sozial sind, dass sie nichts Böses wollen etc.), dann wird automatisch nur eine Erwartung ausgedrückt. Dann ist es für die Kinder einfacher zu kooperieren – und für uns natürlich auch schöner, wenn sie mit unseren positiven Erwartungen kooperieren statt zusätzlich noch mit unseren Befürchtungen und Vorurteilen.

Da dieses Vertrauen nicht in jedem sofort steckt, wollen wir uns gegenseitig helfen, Vertrauen zu tanken und Erfahrungen zu machen, die dieses Vertrauen stärken.

Begleitung statt Betreuung – Gemeinschaftlich statt kindzentriert

Kindzentrierte Betreuung will das Kind beschäftigen.

Bei Rockzipfel gehen wir davon aus, dass Kinder den erwachsenen Bezugspersonen bzw. der Gemeinschaft gerne selbst folgen und einfach mitmachen, wenn sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben dürfen.

Heutzutage sind die Aktivitäten der Erwachsenen häufig isolierend (z.B. Computer), weshalb es die Kinder häufig schwer haben, nachzuahmen oder mitzumachen. Daher werden bei Rockzipfel verschiedene “Arbeiten” verrichtet bzw. es wird Aktivitäten nachgegangen, die diejenigen Eltern machen können, die gerade Zeit haben:

  • Kräutergarten pflegen
  • Beobachtung von Insekten, Experimente
  • Ausflüge
  • Kochen
  • Putzen
  • Renovierungsarbeiten
  • Dekoration, Kunst
  • Aufräumen
  • Tiere pflegen
  • Babys pflegen
  • Hobbys (Stricken, Basteln, Malen, Lesen…)
  • auch Arbeit am Computer
  • Tanzen, Singen, Turnen, Yoga etc.
  • Ballspiele und andere Gemeinschaftsspiele

So erleben Kinder, dass die Erwachsenen mit Freude an die verschiedenen Tätigkeiten herangehen. Möglichst sollen die Kinder bei allem mitmachen dürfen – so wie sie es eben können. Dafür gibt es nach Möglichkeit zum Teil kleinere, kindgerechte Werkzeuge, sie dürfen aber auch mit den großen Werkzeugen arbeiten. Dabei ist es grundsätzlich egal, ob sie es “falsch” machen und ob sie mitmachen wollen – sie müssen es nicht. Sie können durchaus anderen Dingen nachgehen. Selbstverständlich achten wir dabei auf Sicherheit!

Es ist besser, die Tätigkeit beim Namen zu benennen. Es degradiert die Tätigkeit und Mitarbeit des Kindes, wenn sie lediglich als “Helfen” bezeichnet wird (zumal Kinder oft keine wirkliche “Hilfe” sind in dem Sinne).

Beispiel:
Statt: “Magst du mir beim kochen helfen?”
Lieber: “Magst du mit mir kochen?”

Lob

Die lustvolle Mitarbeit aller Beteiligten muss nie gelobt werden. Wenn man das tut, impliziert man, dass das Kind das sonst nicht machen wollen würde und setzt eine entsprechende Erwartung an das Kind – davon gehen wir gerade nicht aus, im Gegenteil. Kinder möchten mitmachen und brauchen dazu auch nicht durch Lob motiviert werden. Kinder handeln hier prozessorientiert, nicht resultatsorientiert.

Natürlich ist es nicht sinnvoll, seine Freude über die Entwicklungsfortschritte der Kinder oder über Geschenke der Kinder, Kunststücke etc. extra zu verbergen. Das wäre nicht authentisch. Wenn Eltern sich einfach freuen, ohne “manipulative” Hintergedanken (“Wenn ich Lara immer schön lobe, wird sie X wiederholen…”), ist das ohne Zweifel positiv und angenehm für alle Beteiligten und stärkt die Kinder!

Spiel mit Kindern

Das Spiel mit Kindern sollte kein Bespielen sein und kein Opfer darstellen. Manchmal laden Kinder zu einem Spiel ein, indem sie einfach irgend etwas für sie “Witziges” einige Male wiederholen. Wir können uns dann natürlich auch auf das Kind konzentrieren, aber im Sinne von sich auf den gemeinsamen Spaß oder die gemeinsame Aktivität einlassen, anstatt sich auf das Kind zu “zentrieren” (z.B. mit dem Anspruch, dass es etwas lernt, dass ihm nicht langweilig ist, etc.).

Wenn Eltern ausgelaugt sind, die Kinder aber spielen wollen, “spielt” oft das schlechte Gewissen “mit”: Die Eltern spielen mit den Kindern gelangweilt und sind nicht richtig “da”. Schön ist es, wenn man bei Rockzipfel auch Mal sagen kann: Kannst du Mal? Ich muss Mal auftanken. Erfahrungsgemäß findet sich immer ein Erwachsener, der gerade Muße hat – und andere vielleicht sogar ansteckt. Aufgetankte Eltern können dann auch wieder authentisch gerne mit ihren Kindern spielen.

Begleiterinnen

Das Projekt befindet sich zur Zeit im Aufbau und bietet kein Betreuungskonzept. Später sollen sich Eltern in Begleitungsdiensten abwechseln.

Die Begleiterinnen und Begleiter – bewusst nicht “Betreuer” oder “Betreuerinnen genannt – sind diejenigen, die gerade den Überblick haben. Während ja alle oder die meisten Eltern anwesend sind und ihre Aufsichtspflicht nicht abgeben, ist es nicht ratsam, wenn bei jeder Wunschäußerung, bei jedem Streit, bei jedem Spiel sofort alle Mamas und Papas zum Ort des Geschehens rennen, um einzugreifen, zu helfen, etc. Deshalb werden “Begleiterinnen” – oder eben “Begleiter” – für bestimmte Zeiträume ernannt.

Begleiter sind für eine gewisse Zeit zuständig für den “Überblick”: sie sehen und hören, wer was braucht, wickeln, gehen raus, ziehen an, bringen das Kind zu Mama zum Stillen oder zum Trösten, holen was aus dem Kühlschrank, spielen intensiv mit den Kindern etc. In dieser Zeit können sich die anderen Eltern anderweitig beschäftigen, können bei Bedarf und Lust auch Kinder zum Mitmachen aufnehmen, können aber auch nach und nach Mal “delegieren”: “Geh Mal zur Julia, die macht das gerade”. Sofern die Kinder einverstanden sind, ist das ja gar kein Problem. Für alle anderen oder schlimmeren Fälle – Bedarf nach Trost, Stillen, Wickeln mal nur von Mama etc. – sind wir Eltern ja da.

Die Begleiterinnen helfen den Kindern, das zu tun, was sie tun möchten, sofern sie wirklich Hilfe brauchen. Sie geben nichts vor, machen nichts vor und erklären auch nicht unbedingt irgendwas ungefragt, (es sei denn, sie haben Lust, ein Spiel- bzw. Kursangebot anzubieten). Die Kinder können bei Rockzipfel selbständig entdecken, was es für Möglichkeiten gibt – in der Umgebung und in ihnen selbst. Außerdem sollen sie von Begleitern nicht bewertet oder verglichen werden, um keinen Druck aufzubauen und den Kindern ihr eigenes Entwicklungstempo zu lassen. Vielmehr sind Begleiterinnen und Begleiter aufgefordert, abwartend zu beobachten oder auch von Herzen mitzuspielen: selbst Spaß haben!

Während also die anderen Erwachsenen mit ihrer Aufmerksamkeit ganz bei ihrer eigenen Beschäftigung sind – natürlich immer im Blick/Ohr bei den Kindern, wie zu Hause auch – stehen zwei erwachsene Begleiter komplett für die Kinder zur Verfügung, ohne in ihre Versuche einzugreifen. Kinder werden ihren eigenen Weg finden, mit den Herausforderungen der Umgebung und der sozialen Kontakte umzugehen. Um dies zu gewährleisten, müssen Erwachsene viel Vertrauen mitbringen – und eventuell in Gesprächen mit anderen Eltern viel Vertrauen “tanken”.

Der sächsische Bildungsplan, der als verbindliche Grundlage für die pädagogische Arbeit in Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege in Sachsen gilt, sieht übrigens eine sehr ähnliche Herangehensweise vor!

Zwischen Sicherheit und Risiko

Bei Rockzipfel treffen sich viele Eltern mit oft ganz unterschiedlichen Vorstellungen von Sicherheit, Gefahr und Risiko. Unsere eigene Geschichte, oft auch unser eigenes schlecht ausgebildetes Körperbewusstsein hindert uns daran, den Kindern zu vertrauen, dass sie – selbständigen Entscheidungen über ihre Bewegungsabläufe überlassen – sich nur das zutrauen, was sie auch können. Unsere Ängste sind berechtigt, und doch ist es bei Rockzipfel wichtig, sich gegenseitig zu helfen, die Grenzen zu öffnen und den Blick zu weiten für neue Erfahrungen, die ein neues Vertrauen in unsere Kinder stärken können.

Wenn Kinder von Anfang an daran gehindert werden, selbständige Bewegungserfahrungen zu machen, d.h. immer Hilfe bekommen, immer abgefangen werden, an bestimmte Bewegungen gehindert werden, können sie kein Körpergefühl entwickeln für: “Was kann ich schon?”, “Wozu traue ich mich?”

Lässt man Kinder in ihren Bewegungen “in Ruhe”, passieren erstaunlich viel weniger Unfälle, da sie nicht mehr auf unser Vertrauen, auf unser wachsames Auge, auf unsere Hilfe angewiesen sind oder zu sein lernen, sondern Selbstvertrauen entwickeln: in ihre Fähigkeiten, in ihren Köper. Zudem müssen sie nicht, nur um der Freiheit Willen gefährlichere Dinge ausprobieren, als sie schon können, weil sie an selbständigen Erfahrungen gesättigt sind und niemanden etwas beweisen müssen.

Obgleich wir Kindern helfen können, wenn sie Hilfe brauchen, müssen wir nicht sofort eingreifen, sobald sie Anzeichen machen, dass sie es vielleicht nicht können. Z.B. kann der Begleiter auch durch Worte helfen: “Ja, genau, du schaffst das, mach weiter so!” oder einfach nur signalisieren, dass er es gehört/gesehen hat und aufpassen wird. Ein Gespräch kann sich entwickeln (“Du schaffst das nicht? Bist du sicher? Soll ich dir Mal helfen?”) Es sollte für die Kinder nicht der Eindruck entstehen, dass sie auf uns angewiesen sind, aber sehr wohl, dass sie jederzeit auf uns zählen können.

Achtung:

Während Kleinkinder von den meisten Plätzen wieder selbst herunter kommen können, wo hinauf sie es selbst geschafft haben, und sie gut einschätzen können, was sie dann dort oben machen können und was nicht, können sie das nicht, wenn wir sie auf Höhen hinauf versetzen, wohin sie von selbst nicht hätten gelangen können. Deshalb ist es wichtig, auch dahingehend möglichst wenig einzugreifen, wobei die Eltern natürlich auf Anfragen sehr wohl die Kinder auf eine bestimmte Wunschhöhe hieven können. Dann sollte man aber sehr aufmerksam bleiben.

All dies bedeutet nicht, dass niemand aufpassen sollte! Unfälle und Fehleinschätzungen können natürlich trotzdem passieren. Es ist für die Entwicklung der Kinder wichtig, dass wir zumindest nicht drängen, nicht auffordern oder über-motivieren, irgendwas auszuprobieren. Die Kinder haben genügend Zeit und werden genügend Vorbilder (andere Kinder und Erwachsene) haben, um sich alles anzueignen, was sie brauchen. Schafft man es, den Kinderkörpern immer mehr zu vertrauen, wird man bald überrascht sein, wie selbständig Kinder Wege finden können, etwas zu schaffen, was sie vorher noch nicht konnten, oder aus schwierigen Situationen selbständig wieder herauszukommen.

Grenzen

Bei Rockzipfel sind Eltern und Kinder frei (sie sind eigentlich auch sonst überall frei ;) aber es gibt viele Einrichtungen, die die Freiheit der Mitglieder stark einschränken). Zu Freiheit gehören automatisch Grenzen – nämlich die der anderen Menschen (Groß und Klein!). Wichtig für das Grenzen “setzen” sind neben dem respektvollen Umgang und der Klarheit des Ausdrucks, dass es sich um defensive Grenzen und nicht um aggressive Grenzen handelt.

Aggressive Grenzen

werden “gesetzt”, um zu erziehen: Entweder, man will jemanden zu seinem “Glück” zwingen (“Du darfst nicht so viel fernsehen, du solltest deine Freizeit anders verbringen”), oder man will ihn “vor sich selbst” schützen (“Die Musik ist zu laut für deine Ohren”), oder die Erwartungen anderer genügen (“Was du machst stört eine dritte Person, höre damit auf!”). Bildlich dargestellt kann man sich vorstellen, dass man um sein Gegenüber einen “Kreis zeichnet”.

Defensive Grenzen

sind solche, die denjenigen, der sie zum Ausdruck bringt, schützen sollen. Es geht nicht darum, den anderen zu verändern oder zu einer Änderung seines Verhaltens zu bringen, sondern darum, deutlich zu machen, dass hier die eigene Freiheit verletzt wird und man deshalb nicht bereit ist, den Zustand zu ertragen. Wie die Lösung aussieht, ist dabei offen. Bildlich kann man es sich so vorstellen, dass man einen Kreis um sich selbst “zeichnet”. So gesehen müssen diese Grenzen nicht aktiv “gesetzt” werden, weil sie schon da sind. Jeder ist dabei selbst für seine Grenzen verantwortlich – was nicht bedeutet, dass man anderen helfen kann, ihre eigenen defensiven Grenzen deutlich zu machen, falls sie Hilfe benötigen.

Wenn jeder auf seine defensiven Grenzen achtet und diese verdeutlicht, anstatt andere “in ihre Grenzen zu weisen”, entsteht ein harmonische(re)s Miteinander, in dem jeder die Grenzen der anderen respektiert bzw. respektieren lernt. Um Grenzen und den Umgang mit ihnen kennen zu lernen, bedarf es nicht dem “Grenzen setzen”. Vielmehr ist es wichtig, dass die einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft die Erfahrung machen, dass ihre eigenen Grenzen respektiert werden! So entsteht eine “Kultur des Respekts”. Die Kinder empfinden dieses Vorgehen als “normal” und ahmen es nach. Deswegen achten sie dann auch eher die Grenzen der Erwachsenen, der anderen Kinder und der Gemeinschaft. (Im Gegensatz dazu finden es Kinder “normal”, andere in “ihre Grenzen zu weisen”, wenn ihnen selbst ständig aggressive Grenzen “gesetzt” werden).

Für die Erwachsenen ist es manchmal (oder oft!) schwierig zu entscheiden, wo ihre eigenen Grenzen im speziellen Fall sind. Oft sind die eigenen Grenzen flexibel und hängen von der Tageslaune oder anderen Faktoren ab, das stiftet zusätzlich Verwirrung.

Klarheit

Nachdem wir uns über diese im Klaren geworden sind, ist es wichtig, dass wir die Grenzen mit einer Klarheit übermitteln, die die Kinder verstehen können. Dies kann übrigens auch wortlos geschehen – manchmal ist das sogar besser. Wir dürfen uns nicht von den Reaktionen der Kinder verunsichern lassen: Es ist normal und OK, wenn sie Unmut darüber äußern, dass ihnen unsere Grenzen nicht gefallen! Sie dürfen weinen, traurig und/oder wütend sein! Wenn sich dadurch unsere Grenzen verändern, ist das OK. Aufopfern müssen wir uns aber nicht, wenn die Grenze stabil geblieben ist.

Wir streben an, möglichst nicht unsere physische Überlegenheit und Kraft dazu auszunutzen, unsere Kinder unter Zwang anzuziehen, zu wickeln etc. Bei Gefahr ist es mitunter notwendig, bei anderen Dingen sind Kreativität und Geduld angesagt. Oft gibt es andere Wege – und manchmal werden wir leider nicht kreativ genug sein. Dann ist es wichtig, dass wir ständig im Austausch bleiben, ohne Schuldgefühle entwickeln zu müssen, die für konstruktives Arbeiten hin zu kreativen Lösungen hinderlich wären.

Selbstständigkeit

Kinder können in vielen Lebensbereichen Selbständigkeit – aber auch Abhängigkeit erfahren. Naturgemäß erfahren sich Kinder je älter sie werden immer mehr als selbständige, eigenverantwortliche Subjekte. Sie geben diese Eigenverantwortung und Selbständigkeit ungerne ab – das merken wir deutlich an ihrem Unmut, den sie äußern, wenn wir sie einschränken bzw. meinen, sie einschränken zu müssen.

Andersrum wissen sie aber auch, dass sie in vielen Bereichen von uns abhängig sind. Dies kann sich in einem Gefühl der Geborgenheit ausdrücken – oder auch zu Frustgefühlen führen: nämlich dann, wenn sie merken, dass sie vieles schon selbst tun oder besorgen könnten, es ihnen aber noch abgenommen wird.

Beispiele für Bereiche, wo Kinder nach und nach – in ihrem eigenen Rhythmus und auf ihre individuell “richtige” Weise – Selbständigkeit lernen und erleben (können): essen, mitmachen beim Kochen, Tisch decken und abräumen, Hände waschen, putzen, kreativ sein, aufräumen, an- und ausziehen, klettern, spielen, Probleme lösen, ertragen oder haben, Unterstützung holen, ablehnen oder geben, etc.

Da Menschen jeden Alters meistens danach streben, möglichst selbständig und trotzdem in einer Gemeinschaft aufgehoben zu sein, ist es ein wichtiger Punkt bei Rockzipfel, die Selbständigkeit der Kinder nicht zu verhindern – aber auch nicht übermäßig zu fördern (Überforderung) – und ihnen und allen Mitgliedern der Gemeinschaft zu helfen, ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben zu führen.

Konkret kann das so aussehen:

  • Beobachten, statt eingreifen
  • sich merken/notieren, wo in der Umgebung oder im Miteinander noch Defizite sind, damit sie besprochen werden können, um in Zukunft mehr Selbständigkeit zu gewährleisten. Z.B. merkt man, dass Kinder immer wieder bestimmte Dinge haben möchten, an die sie nicht heran kommen, dann versucht man eine Lösung zu finden (z.B. einen Hocker besorgen oder einen anderen Platz zu suchen).
  • mehr begleiten statt “erziehen”.

Dies setzt viel Vertrauen und beziehungsorientiertes (statt erzieherisches) Handeln voraus.

Fallbeispiel:
Ein Kind möchte in den Garten gehen, sich aber dafür nicht anziehen, obwohl wir meinen, dass es zu kalt ist (Winter).

Wenn wir von Selbständigkeit reden, bezieht sich das nicht nur auf die körperlichen Fähigkeiten des Kindes. Es geht auch ausdrücklich darum, selbst Entscheidungen zu treffen. Die Fähigkeit, “richtige” Entscheidungen zu treffen ist (auch bei Erwachsenen) nicht immer voll ausgereift und oft auch abhängig von der Tagesform oder auch anderen Faktoren.

Es passiert oft, dass wir bei unseren Entscheidungen Fehler machen, weil wir entweder die möglichen Konsequenzen nicht vollkommen überblicken konnten (das kann sowieso niemand zu 100%) oder, weil wir sie falsch eingeschätzt haben. Wie schön ist es, wenn wir jemanden haben, der uns dann hilft und auffängt statt zu sagen: “Siehst du? Hab ich ja gesagt!”. Es geht dann nämlich um Kooperation (Wie können wir uns in Notsituationen helfen?) statt Konkurrenz (Wer hat Recht gehabt?).

Bei Rockzipfel begleiten wir solche “Fehlentscheidungen” der Kinder, indem wir sie zulassen und erst Mal schauen, was passiert. Oft finden Kinder selbst zu einer neuen Entscheidung, z.B., das Kind geht nach zwei Minuten doch wieder rein und holt sich die Jacke und den Schal. Wir können natürlich informieren (“Draußen ist es kalt, bist du sicher?”), sollten aber Raum für Fehler lassen.

Für uns Erwachsene ist es dabei manchmal oder oft schwer, dabei einfach “zuzugucken”. Wir sind es auch gewohnt, dass andere uns sofort auf unsere Fehler aufmerksam machen. Zudem wissen wir aus Erfahrung, dass es sich oft lohnt, auf die Warnungen oder Hinweise der anderen zu achten, um Fehler zu vermeiden. Manchmal wollen wir es aber selbst erfahren oder das Risiko eingehen – dies steht Kindern genauso zu, und durch ihren geringeren Erfahrungsschatz ist es verständlich, dass es häufiger als bei uns Erwachsenen vorkommt.

Folgenden Prinzipien helfen, diese Gratwanderung zu schaffen:

  • jeder Mensch darf Fehler machen, “falsche” Entscheidungen treffen und aus diesen lernen – oder eben (noch) nicht
  • da wir die Menschenrechte aller Menschen achten, führen wir keinen Zwang aus
  • Zwang ist nur bei akuter und offensichtlicher Gefahr nötig – auch bei Erwachsenen
  • da jeder Mensch Fehler machen darf, wird das Kind nach seiner “falschen” Entscheidung nicht kritisiert und auch nicht allein gelassen (z.B. aus Erziehungszwecken: “Aha, dir ist jetzt kalt – tja, ich helfe dir jetzt nicht mehr in deine Sachen, ich hatte dich ja gewarnt”). Bei seinem neuen Problem oder der neuen Entscheidung wird das Kind im Rahmen unserer Möglichkeiten unterstützt.

Nach diesen Prinzipien würde das Kind einfach ohne Jacke heraus gehen, der Erwachsene würde aber auf Kälteanzeichen achten und dem Kind beim anziehen helfen, wenn es sich dann doch umentscheidet – oder nach drinnen begleiten etc. Die Begleiterinen können auch vorsorgen: “OK, ich nehme einfach deine Jacke mit”, um dann später gleich helfen zu können. Wichtig ist, dass man dem Kind Zeit lässt, seine eigenen Fehler und Erfahrungen machen. Dabei wäre es gemein, wenn wir es dann beim Erfahren der “falschen Entscheidung” alleine lassen und nur begleiten wollen würden, solange es das tut, was wir vorschlagen. Deshalb muss das Kind dann auch nicht die Kälte “aussitzen”.

Eine Beziehung aufbauen

Es ist wichtig, dass wir mit Kindern Beziehungen aufbauen. In Beziehungen haben Zwang und Entscheidungen “von oben herab” nichts zu suchen. Eine Beziehung ist geprägt von Vertrauen. Bei Kindern, vor allem bei unseren eigenen, geben wir schon bei oder vor Geburt einen “Vertrauensvorschuss”: Wir warten nicht erst, bis uns das Kind “bewiesen” hat, dass es vertrauenswürdig ist.

Bei Rockzipfel sind viele Menschen. Es ist schwer, in einer großen Gruppe mit jedem Menschen eine enge Beziehung aufzubauen. Die jeweiligen Begleiter und auch der Rest der Erwachsenen gehen mit Kindern hier in Anlehnung an Emmi Piklers Erfahrungen miteinander um. Während Kinder sich in der Ja-Umgebung frei und selbständig bewegen können, finden die Begegnungen mit den Erwachsenen automatisch vor allem in Pflegesituationen statt: Beim Wickeln, Hände Waschen, Anziehen, Füttern, Trösten, Begrüßung und Abschied etc.

Diese Pflegesituationen sieht Pikler nicht als schnell zu erledigende Arbeiten und notwendige Übel, sondern als einzigartige Momente der Begegnung: In diesen Momenten wenden sich die Begleiterinnen/Eltern/Erwachsene den Kindern besonders zu und konzentrieren sich auf die Begegnung. Sie fertigen z.B. nicht alle Kinder “in einem Wisch” ab, sondern ziehen immer nur ein Kind zum Rausgehen an. Alles, was der Begleiter tut, wird kommentiert und angekündigt.

Bei Pflegesituationen, die alle Kinder zu ungefähr der gleichen Zeit betreffen, wird es dann so gehandhabt, dass eine Begleiterin sich um die Pflege eines einzelnen Kindes kümmert, während der andere Begleiter mit den anderen Kindern ist. So können die Kinder in Ruhe angezogen, gewickelt, gewaschen etc. werden.

Voraussetzung ist, dass genügend Zeit eingeplant wird und die Umgebung entspannt bleibt. So können diese Momente dazu genutzt werden, mit dem Kind eine Beziehung aufzubauen. Weiters ist es wichtig, dass auch in diesen Momenten der Begegnung erst abwartend/beobachtend begleitet wird, anstatt gleich mit Hilfe einzugreifen. Die Begleiterinnen und Begleiter können einschätzen lernen, was das Kind schon kann, was nicht, ob es wirklich Hilfe braucht oder nicht, etc. Es geht vor allem darum, echte Kommunikation herzustellen.

Tipps:

  • Augenkontakt, gleiche Augenhöhe
  • Körperkontakt (je nach Situation)
  • Bewegungsfreiheit fürs Kind
  • Ruhe und viel Zeit, keine Eile
  • das Kind braucht Zeit, zu reagieren: Geduld!
  • Liebevolle Kommunikation, Tätigkeit selbst genießen

Achtung:
Wenn Begleiter zwar im Dienst sind, aber fühlen, dass sie gerade überfordert sind, weil sie z.B. genervt sind oder gerade am Rande des Genervtseitns, ist es ratsam und für alle Beteiligten von größerem Vorteil, wenn er sich an einen der anderen anwesenden Eltern wendet und den Dienst tauscht. Liebevolle Kommunikation und der Genuss der Pflegesituationen kann und soll nicht erzwungen werden.

Kommunikation

Die Sprache soll bei Rockzipfel der Kommunikation und dem Aufbau einer Beziehung zwischen den Teilnehmern dienen, nicht der Manipulation. Es geht vorrangig darum, wirklich miteinander zu kommunizieren, sich kennen zu lernen, miteinander zu agieren. Echte Kommunikation zeichnet sich dadurch aus, dass Informationen und Meinungen austauscht werden und kein Anspruch darauf besteht, dass der andere die Meinungen annimmt. Es geht um den Spaß an der Kommunikation, weniger um Anweisungen. Wir wollen uns gegenseitig kennen lernen und Interesse aneinander zeigen.

Durch Sprache sollen außerdem eigene Grenzen und Bedürfnisse ausgedrückt werden statt erzieherische Befehle, Ratschläge oder Maßnahmen.

Es ist dabei wichtig, dass nicht nur das eigene Bedürfnis oder die Grenze deutlich gemacht wird (“Ich möchte…(nicht)”), sondern dass auch versucht wird zu deuten oder zu erfahren, was das eigentliche Bedürfnis des anderen ist (“Du hast anscheinend Spaß beim Matschen!”/“Das Gefühl in deinen Händen fühlt sich lustig an, was?”) und ein kreativer (nicht direktiver) Alternativvorschlag folgt (“Du kannst gerne im Garten matschen.”/“Du kannst mit deinem eigenen Essen matschen.”/“Schau Mal hier, ich hab Fingermalfarben.”/“Wollen wir zusammen Kuchen backen?”).

In Gefahrensituationen ist es allerdings nicht unangebracht, “Befehle” zu geben. Da gilt es, schnell zu reagieren. Gehört das nicht zum Alltagston, werden Kinder eher überrascht sein als genervt, und werden viel eher davon ausgehen, dass es sich hier um etwas wirklich wichtiges handelt, wo Kooperation angesagt ist.

Ein Gefühl für das Selbst

Gerade bei Kindern, die sich schon gut verständigen können, ist es gut, wenn man die eigene Meinung zurückhält, bevor man auf Fragen antwortet. Man kann stattdessen zurück fragen: “Was meinst du dazu? Hast du da schon an eine Lösung gedacht? Hast du eine Idee?” Oft fragen Kinder auch nur, um ihre eigene Theorie zu testen. Wir können ihnen mit Rückfragen die Möglichkeit geben, ihre Theorie zu überprüfen, wenn sie es wollen. So kann man sie dabei unterstützen, das Gefühl für ihre eigenen Fähigkeiten zu behalten.

Räume

Die Räume bei Rockzipfel sind sowohl für Kinder als auch für Erwachsene gestaltet, wobei besonders auf die Bedürfnisse der Kinder Rücksicht genommen wird (z. B. keine offenen Steckdosen und Stromkabel, keine Blumentöpfe auf Kinderhöhe, wenn man nicht will, dass damit gespielt wird)

Die Räume sollen in der Gründungsphase liebevoll durch Spenden, Heimwerk- und Bastelarbeiten bestückt und dekoriert werden, sodass eine anregende und einladende Atmosphäre entsteht. Möglichst kann alles, was für Kinder erreichbar ist, auch von ihnen genutzt werden. Die Umgebung lädt zu vielfältigen Bewegungsversuchen und zum Ausprobieren ein: Die Gebrauchsgegenstände, die gesamte Umgebung sagt: Ja, erforsche mich – Ja! Fass mich an! – Ja, du darfst hier neugierig sein. Gleichsam verschafft sie Eltern Entspannung, weil sie nicht ständig “Nein” sagen müssen, wie an anderen Orten, wo Dinge leicht kaputt gehen können oder einem nicht gehören.

Die Ja-Umgebung bietet den Kindern die Möglichkeit, sich selbständig aus ihrem eigenem Entwicklungstrieb heraus zu bewegen. In einer solchen Umgebung müssen sie nicht extern motiviert werden, sondern können selbst herausfinden, was sie mögen, was sie schon können, wozu sie sich trauen und wozu nicht.

Es soll möglichst darauf geachtet werden, die Räume nicht zu überladen. Platz und die Möglichkeit, “Dreck” zu machen ist wichtiger als viel Spielzeug.

Die Räumlichkeiten haben möglichst Zugang zum Garten.

Die Umgebung…

  • ist möglichst “ungefährlich”
  • soll die Bedürfnisse der Kinder stillen können, sodass sie nicht so leicht aus dem Gleichgewicht kommen und sie sich optimal entwickeln können.
  • soll für Kinder leicht erschließbar sein, sodass sie sich darin selbständig bewegen können.
  • soll gleichsam keine isolierte “Gummizelle” sein, in der absolut nichts passieren kann!

Da es unter den Kindern mitunter größere Altersunterschiede geben kann, ist ggf. eine stärkere Begleitung der Kinder durch die Begleiter je nach ihrem Entwicklungsstand notwendig, z.B. weil die größeren Kinder Dinge ausprobieren oder so hinstellen, dass sie gefährlich(er) für die kleineren werden könnten.

Die Begegnungen zwischen den Altersgruppen spiegeln zum Teil (vor allem in einer solchen familiären Umgebung) das Leben in einer Großfamilie wieder – oder ahmen sie zumindest zum Teil nach. Sie bieten Erfahrungsmöglichkeiten für die Größeren, sich mit den Bedürfnissen der Kleinen auseinander zu setzen. Eine räumliche Trennung der verschiedenen Altersgruppen wollen wir möglichst vermeiden. Da wir keinen Erfahrungswert haben, ist dieser Punkt jedoch noch sehr offen. Sollte es zu Problemen kommen, weil die Bedürfnisse der Kinder so unterschiedlich sind, dass die Kollisionen ständig für Disharmonie sorgen, wird hierüber diskutiert und nach Lösungen geschaut.

Stillfreundliche Umgebung

Bei Rockzipfel sollen sich Langzeitstillerinnen und Stillabbrecherinnen gleichermaßen wohl fühlen. Jede Mutter hat mit ihrem Kind ihre eigenen Vorstellungen und Lösungen.